Der Roman Noch wach? von Benjamin von Stuckrad-Barre bewegt sich auf verschiedenen Ebenen in einem Grenzbereich. Einmal ist der Zeitpunkt des Erscheinens interessant. Nennen wir es mal Zufall oder Parallelität der Ereignisse, dass der Roman erscheint, als ein Chatverlauf zur Causa Axel-Springer-Verlag / Julian Reichelt medial hochkocht. Andererseits könnte der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans auch mit der Leipziger Buchmesse im April 2023 zu tun gehabt haben.
Der Roman handelt von einer jungen Frau, die als Redakteurin in Deutschland für einen großen Fernsehsender arbeitet. Während ihrer Zusammenarbeit mit dem Chefredakteur verwischen die Grenzen zwischen Arbeit und privater Beziehung. Der Ich-Erzähler, der mit dem CEO des TV-Senders befreundet ist, gerät in die Rolle des teilweise Mitwissenden über den schmalen Grad zwischen Machtmissbrauch und privater Beziehung.
Auf einer weiteren Ebene verschwimmen die Grenzen: ist es Fiktion, weil ein Roman? Oder basiert einiges auf Fakten? Dieser Eindruck entsteht durch Bezüge, wie der zur #Metoo-Debatte oder dem vermeintlichen Zitieren von bekannten Persönlichkeiten sowie der empfundenen Nähe zur bereits erwähnten Situation beim Axel-Springer-Verlag. Aber: welche Teile basieren tatsächlich auf – wie gemutmaßt wird – Situationen und Umgangsformen des Axel-Springer-Verlags? Was ist – wenn überhaupt – Spekulation, angelehnt, abgewandelt, Faktenlage?
Behandeln wir das Buch als einen Roman, dann kann er als Sittengemälde unserer Zeit gelten. Eindrücklich ist mir die Szene in Erinnerung, in der eine junge Frau beschreibt, welche Verhaltensstrategien Frauen sich überlegen, wenn sie abends ausgehen (Stichwort: Getränk nie aus den Augen lassen, damit keiner K.-o.-Tropfen einfüllen kann u.v.m.). Es geht um das Rollenverständnis von Mann und Frau, Machtmissbrauch am Arbeitsplatz und das Verwischen von Arbeit- und Privatleben. Kurz: auch hier (möglichen) Grenzüberschreitungen.
Der Erzählstil enthält viel direkte Rede, die den Zeitgeist widerspiegelt und das Geschehen nahbar macht. Antworten auf die aufgeworfenen Fragen und Dilemmata werden im Grunde nicht gegeben. Der Ich-Erzähler repräsentiert in meinen Augen unsere Gesellschaft, die aktuell beginnt solche Situationen wahrzunehmen und darum ringt, das richtige Verhalten zu entwickeln und zu erlernen.
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